Ist Voraussetzung für eine Eigenbedarskündigung, dass der Vermieter ernsthafte, vernünftige und nachvollziehbare Gründe hat, die Wohnung für sich selbst oder eine Person des in den Anwendungsbereich der Regelung einbezogenen Personenkreises zu nutzen?
Die Antwort des Landgerichts Berlin (LG Berlin – 65 S 241/17, Beschluss vom 19.02.2018) lautet: Ja!
Zur Begründung führt das Landgericht Berlin in seiner vorgenannten Entscheidung unter I. wie folgt aus: „ Frei von Rechtsfehlern hat das Amtsgericht einen Anspruch der Kläger gegen die Beklagte auf Räumung der von ihr inne gehaltenen Wohnung im Hause …… Straße 49, 12049 Berlin verneint. Das zwischen den Parteien bestehende Mietverhältnis ist durch die auf den Nutzungswunsch der 17-jährigen Tochter der Klägerin gestützte Kündigung vom 28. Juli 2016 nicht nach § 573 Abs. 1, 2 Nr. 2 BGB beendet worden, die Beklagte daher nicht verpflichtet, die Mietsache an die Kläger herauszugeben, § 546 Abs. 1 BGB.
Gemäß § 573 Abs. 1 BGB kann der Vermieter einer Wohnung kündigen, wenn er ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses hat. Ein berechtigtes Interesse liegt gemäß § 573 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 BGB insbesondere dann vor, wenn er die Wohnung für sich, seine Familienangehörigen oder Angehörige seines Haushaltes benötigt.
Bei dem Kriterium des “Benötigens” in § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB handelt es sich um einen objektiv nachprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff, der voraussetzt, dass der Vermieter ernsthafte, vernünftige und nachvollziehbare Gründe hat, die Wohnung für sich selbst oder eine Person des in den Anwendungsbereich der Regelung einbezogenen Personenkreises zu nutzen (st. Rspr., vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 19.07.1993 – 1 BvR 501/93, BGH, Rechtsentscheid in Mietsachen v. 20.01.1988 – VIII ARZ 4/87, m.w.N.; Urt. v. 05.10.2005 – VIII ZR 127/05, WuM 2005, 779; Schmidt-Futterer/Blank, Mietrecht, 13. Aufl., 2017, § 573 Rn. 60; BeckOK MietR/Siegmund, 10. Ed., BGB § 573 Rn. 29).
Die Darlegungs- und Beweislast liegt insoweit beim Vermieter (vgl. BGH, Urt. v. 23.09.2015 – VIII ZR 2015, NJW 2015, 3368).
Die Freiheit des Vermieters, die Wohnung bei Eigenbedarf selbst zu nutzen oder durch privilegierte Angehörige nutzen zu lassen, genießt den Schutz des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.07.1993 – 1 BvR 501/93; BGH, Urt. v. 04.03.2015 – VIII ZR 166/14, NJW 2015, 1590, mwN.).
Das gilt aufgrund des Stellenwertes der Wohnung als Mittelpunkt der privaten Existenz für jedermann aber ebenso für das Besitzrecht des Mieters an der vermieteten Wohnung. Da ein Großteil der Bevölkerung zur Deckung seines Wohnbedarfs nicht auf Eigentum zurückgreifen kann, sondern gezwungen ist, Wohnraum anzumieten, erfüllt das vom Vermieter abgeleitete Besitzrecht des Mieters Funktionen, wie sie typischerweise dem Sacheigentum zukommen (vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 26.05.1993 – 1 BvR 208/93, NJW 1993, 2035; BGH, Urt. v. 29.03.2017 – VIII ZR 45/16, WuM 2017, 333)
Im Konflikt der beiden verfassungsrechtlich geschützten Eigentumspositionen folgt daraus zwar kein genereller Vorrang des Bestandsinteresses des Mieters, aber ein Anspruch des Mieters auf sorgfältige Überprüfung des Erlangungswunsches des Vermieters durch die Fachgerichte, insbesondere darauf, ob dieser von ernsthaften, vernünftigen und nachvollziehbaren Gründen getragen oder missbräuchlich geltend gemacht wird (BGH, Urt. v. 04.03.2015 – VIII ZR 166/14, NJW 2015, 1590, mwN.; BeckOK MietR/Siegmund, 10. Ed., BGB § 573 Rn. 32, mwN.).
Dies zugrunde gelegt, haben die Gerichte die Angaben des Vermieters zur Begründung des Eigenbedarfs lebensnah zu würdigen und ihre Plausibilität zu prüfen (vgl. BGH, Urt. v. 23.09.2015 – VIII ZR 194/14, NJW 3368, [3370], nach beck-online).
An eben diese Maßstäbe hat das Amtsgericht sich gehalten. Es ist dem Vorbringen der Kläger nachgegangen und hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhaltes der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme nach freier Überzeugung entschieden, ob es die Behauptung der Kläger für wahr oder nicht für wahr zu erachtet, § 286ZPO. Nach dieser Vorschrift hat der Richter unter Beachtung der Denk- und Naturgesetze, Erfahrungssätze und der gesetzlichen Beweisregeln im Verlauf des Rechtsstreits gewonnene Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung zu bewerten. Der Richter muss nach der Wahrheit streben, darf sie aber nicht zu der Voraussetzung seiner Entscheidung machen. Deshalb muss er sich mit einer persönlichen Gewissheit begnügen, die den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (vgl. st. Rspr.: BGH, Urt. v. 17.02.1970 – III ZR 139/67, in: NJW 1970, 946; Urt. v. 28.01.2003 – VI ZR 139/02; Urt. v. 03.06.2008 – VI ZR 235/07, in: NJW-RR 2008, 1380).
Diese Anforderungen hat das Amtsgericht zugrunde gelegt, wobei es vor der – bei einem Eigennutzungswunsch naturgemäß gegebenen – Schwierigkeit stand, dass dessen Überprüfung sich auf innere Tatsachen bezieht (vgl. zu den erhöhten Anforderungen an die Beweiswürdigung auch: Anm. Kappus zu BGH, Urt. 23.09.2015, a.a.O., NJW 2015, 3370, [3371]. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts ist weder lückenhaft oder widersprüchlich, noch liegt ein Verstoß gegen Denkgesetze vor oder eine fehlerhafte rechtliche Bewertung des Ergebnisses der Beweisaufnahme.
Es mag nachvollziehbar sein, dass eine 17-jährige Schülerin sich wünscht, aus der beengten elterlichen Wohnung auszuziehen. Die – sorgfältig protokollierten – Angaben der Zeugin in der Beweisaufnahme vor dem Amtsgericht tragen jedoch die in den Entscheidungsgründen ausgeführten Zweifel daran, dass die Zeugin diesen Wunsch im maßgeblichen Zeitpunkt des Ausspruches der Kündigung bereits ernsthaft und hinreichend konkretisiert gefasst hatte, verbunden mit dem Entschluss, ihn tatsächlich vollständig und dauerhaft tatsächlich umzusetzen.
Macht der Vermieter dem Mieter – wie hier die Kläger der Beklagten – seine verfassungsrechtlich geschützte Rechtsposition an der Wohnung streitig, reicht es nicht aus, wenn die Angaben der minderjährigen Zeugin bestätigen, dass sie den Umzug in eine eigene Wohnung als Möglichkeit ins Auge gefasst hat, aber der Eindruck im Raum stehen bleibt, dass die Zeugin davon wieder abrücken mag, wenn ihr – im Rahmen der konkreten Umsetzung – erstmals die weitreichenden Konsequenzen klar werden, über die sie sich – ihren Angaben in der Vernehmung zufolge – im Einzelnen gar keine Gedanken gemacht hat.
Die Würdigung des Aussageverhaltens der Zeugin durch das Amtsgericht ist entgegen der Ansicht der Kläger nicht widersprüchlich.
Wenn das Amtsgericht für seine Würdigung maßgebliche Gesichtspunkte im Verhalten der Zeugin benennt, wie die häufige Rückvergewisserung durch das Suchen von Blickkontakt zu den Klägern, die stakkatohafte Wiedergabe des Vortrags der Kläger, die von der Zeugin bei Entdecken eines Aussagefehlers eingeräumte Aufregung, so tragen sie die Einschätzung der Zeugin in ihrem Auftreten – durchaus alterstypisch – als unsicher. Es mag zugunsten der Kläger unterstellt werden, dass die Überwindung von Unsicherheit, der Weg des Kindes in die Selbstständigkeit als Herausforderung angesehen werden kann und allein nicht ausreicht, der Zeugin die Ernsthaftigkeit des Wunsches abzusprechen, in eine eigene Wohnung zu ziehen.
Zutreffend und überzeugend hat das Amtsgericht aber die tatsächlichen Lebensumstände der Zeugin sowie ihre inhaltlichen Einlassungen in seine Würdigung einbezogen.
Ins Gewicht fällt dabei, dass die Zeugin im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung im Juli 2016 am 24. Juli gerade 16 Jahre alt geworden war und ihr 9. Schuljahr in der am Volkspark Friedrichshain gelegenen Schule am Königstor bevorstand.
Es ist wenig plausibel, dass die im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung 16-Jährige Zeugin ihren bisherigen Lebensmittelpunkt aufgibt, sich aber im Zusammenhang mit diesem so weitreichenden, auf Dauer angelegten Einschnitt in ihre Lebensumstände über die Einzelheiten (der Organisation) ihres Alltags in einer im Wesentlichen von ihr allein bewohnten Wohnung keine näheren Gedanken macht, nicht einmal weiß, in welchem Stadtbezirk die Wohnung liegt. Wenn in der Kündigung und von der Zeugin im Rahmen der Beweisaufnahme argumentiert wird, der Umzug solle ihr (unter anderem) die Möglichkeit geben, in altersgerechter Atmosphäre Besucher bzw. Freunde zu empfangen, so wäre es naheliegend und alterstypisch gewesen, wenn die Zeugin gewusst hätte, wie ihre Freunde sie im Schillerkiez in Neukölln (unproblematisch) erreichen können und sie ihren Freundeskreis trotz des neuen Lebensmittelpunktes außerhalb des Einzugsbereiches ihrer Schule am Volkspark Friedrichshain aufrechterhalten kann. Die Zeugin hatte indes nicht einmal eine Vorstellung davon, in welchem Bezirk die Wohnung liegt. Sie äußerte die Vorstellung, die Schule mit der U8 erreichen zu können, wobei gerichtsbekannt ist, dass im Bereich der Greifswalder Straße bzw. am Volkspark Friedrichshain keine U-Bahn-Linie entlang führt. In einer Schule in der Greifswalder Straße möchte sie ihren Angaben zufolge aber auch ihr Abitur machen, also keinesfalls wechseln. Die Kammer übersieht dabei nicht, dass eine 16- Jährige in Berlin durchaus auch längere Wege zur Schule unter Nutzung des gut ausgebauten öffentlichen Verkehrsnetzes zurücklegen kann. Hier aber beschränkt sich der Auszug aus der bisherigen Wohnung nicht auf eine Veränderung der Wohngegend, sondern soll mit einem Verlust der elterlichen Präsenz in der Bewältigung des Alltags einhergehen, dies in einer Lebensphase, die von Wünschen, aber auch zu bewältigenden Unwägbarkeiten geprägt ist. So äußerte die Zeugin den Wunsch, nach der 10. Klasse an die Partnerschule ihrer jetzigen Schule zu wechseln, um das Abitur zu machen, ohne dass sie dies als sicher darstellte.
Vor dem Hintergrund des persönlichen Eindrucks von der im Zeitpunkt der Vernehmung 17- jährigen, im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung 16-jährigen Zeugin ist nachvollziehbar, dass das Amtsgericht ihr nicht mit dem erforderlichen Maß der Gewissheit zu glauben vermochte, dass sie bereits ernsthaft und bestimmt den Wunsch verfolgte, in der von der Beklagten inne gehaltenen Wohnung ihren neuen Lebensmittelpunkt zu begründen. Dies geht zu Lasten der Kläger.”