Ist der Leistungsträger bei einem Sozialrechtsverhältnis verpflichtet, den Hilfebedürftigen bei der Geltendmachung von Rechten gegen den Vermieter zu unterstützen, wenn es aufgrund von Leerstand im Gebäude Anhaltspunkte für einen erhöhten Heizaufwand gibt?
Die Antwort des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt (LSG Sachsen-Anhalt – L 4 AS 429/15 B ER, Beschluss vom 28.09.2015) lautet: Ja!
Zur Begründung führt das LSG Sachsen-Anhalt in seiner vorgenannten Entscheidung unter II. wie folgt aus: “1. Unter Anwendung dieser Maßstäbe ist die sozialgerichtliche Entscheidung nicht zu beanstanden, da die Antragsteller einen Anspruch auf die Bewilligung weiterer KdU-Leistungen iHv 213,50 EUR nach §§ 19, 22 SGB II hinreichend glaubhaft gemacht haben.
Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden vom Leistungsträger die KdU in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Vorliegend ist noch ein Anspruch der Antragsteller auf Übernahme von monatlich weiteren 213,50 EUR für Heizkosten zwischen den Beteiligten streitig. Zutreffend hat das SG zunächst eine deutliche Überschreitung der konkreten Heizkosten nach dem Bundesheizspiegel 2014 bei den Antragstellern festgestellt und daraus die Annahme abgeleitet, dass diese Kosten auch unangemessen hoch iSv § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind. Denn die zugrunde gelegte Grenze berücksichtigt bereits ein unwirtschaftliches und tendenziell unökologisches Heizverhalten. Darüber hinausgehende Heizkosten weisen in der Regel auf einen Verbrauch hin, der dem allgemeinen Heizverhalten in der Bevölkerung nicht mehr entspricht.
Nach der Kostensenkungsaufforderung des Antragsgegner und dem Ablauf der Sechs-Monats-Frist war zu prüfen, ob den Antragstellern gemäß § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II gleichwohl noch ein höherer Anspruch auf Leistung für die Unterkunft in voller Höhe zusteht. Dies ist nach vorläufiger Bewertung der Sach- und Rechtslage als überwiegend wahrscheinlich zu bejahen.
Soweit die Aufwendungen des Hilfebedürftigen für die Unterkunft (Nettokaltmiete plus Betriebskosten) die abstrakt angemessene Leistung für die Unterkunft übersteigen, sind die Aufwendungen nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II solange zu berücksichtigen, wie es nicht möglich oder nicht zumutbar ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate. Wegen des Ausnahmecharakters der Erstattung nicht angemessener Unterkunftskosten sind strenge Anforderungen an die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Unzumutbarkeit zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 19. Februar 2009, B 4 AS 30/08 R; Urteil vom 23. August 2011, B 14 AS 91/10 R).
Hierbei greift es entschieden zu kurz, wenn der Antragsgegner sich darauf beschränkt, den Antragstellern einen unzureichenden Sachvortrag zu konkreten Heizkosteneinsparmaßnahmen vorzuwerfen und er ihnen unter Vorlage von alternativen Wohnraumangeboten einen Umzug nahelegt. Denn es liegen hier Besonderheiten vor, die einen Ausnahmefall wahrscheinlich machen.
a. Zunächst ist die atypische Wohnungssituation zu beachten: Um überhaupt angemessenen Wohnungsraum für die inzwischen 10-köpfige Familie zu finden, wurden zwei Wohnungen zusammengelegt. Diese sind zwar durch einen Wanddurchbruch in einem Durchgangszimmer verbunden. Gleichwohl ist von den fünf haushaltsangehörigen Kindern von bis zu 11 Jahren nicht zu erwarten, dass sie ausschließlich über das Durchgangszimmer zwischen beiden Wohnungen wechseln. Es ist davon auszugehen, dass sie dafür auch die geöffneten Wohnungseingangstüren nutzen, was mit größeren Wärmeverlusten verbunden sein kann.
b. Des Weiteren könnte auch die tatsächlich bewohnte Fläche von 165 m² als angemessene Wohnungsfläche anstelle von 130 m² bzw. 140 m² zugrunde zu legen sein, weil darin ein überdurchschnittlicher Anteil an Verkehrsflächen (z. B. zwei Flure, ein Durchgangszimmer) enthalten ist, der sich nicht zum Wohnen im eigentlichen Sinne eignet.
c. Schließlich ergeben sich aus den Angaben des Vermieters zum Leerstand im Gebäude Anhaltspunkte für einen erhöhten Heizaufwand, den nicht die Antragsteller zu verantworten haben. Nach den Angaben des Vermieters sind die Wohnungen der Antragsteller von leerstehenden und damit unbeheizten Wohnungen nach oben und unten hin umschlossen. Dies führt zwangsläufig zu einem höheren Heizaufwand. Leerstandsbedingte Kostenverschiebungen zulasten der Mieter sind im Zivilrecht ein gerichtsbekanntes Problem. So hat der BGH im Urteil vom 10. Dezember 2014 (VIII ZR 9/14, ibr-online) aus leerstandsbedingten Kostenverschiebungen den Mietern aus Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch) ein Recht auf Anspruchsbegrenzung gegen den Vermieter zugestanden. Dem Antragsgegner obliegt es daher, die Antragsteller im Rahmen der allgemeinen Beratungspflichten nach § 14 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I) auf diese Rechte hinzuweisen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist der Leistungsträger bei einem Sozialrechtsverhältnis verpflichtet, den Hilfebedürftigen bei der Geltendmachung von Rechten gegen den Vermieter zu unterstützen (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2011, B 14 AS 15/11 R; Urteil vom 17. Februar 2015, B 14 KG 1/14 R). Er darf ihn nicht lediglich auf seine Selbsthilfemöglichkeiten verweisen. Diese Beratungspflicht ist weitreichend, sie geht nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung bis zur eigenen Beteiligung des Leistungsträgers an einem zivilrechtlichen Rechtsstreit (BSG, a. a. O.). Entgegen der Auffassung des Antragsgegners kommt auch eine Unterstützung im Wege der Streitgenossenschaft in Betracht. Verlangt der Leistungsträger trotz erheblichen Leerstandes im Wohnobjekt vom Hilfebedürftigen Kostensenkungsmaßnahmen, darf er sich der Einbeziehung des Vermieters in seine Überlegungen zur Kostensenkung nicht einfach verschießen. Dies gilt auch gerade vor dem Hintergrund, dass der Vermieter im vorliegenden Fall offenbar Probleme hatte, die Betriebskosten für das vorangegangene Kalenderjahr zeitnah abzurechnen.
d. Schließlich dürfte auch ein Wohnungswechsel (derzeit) unzumutbar sein. Es scheint keinen angemessenen und zumutbaren Wohnraum für die Antragsteller in ihrem Wohnort J. zu geben. Die vom Antragsgegner vorgeschlagenen Wohnungen in J. sind mit Wohnflächen um 100 m² deutlich zu klein. Ein Wechsel des Wohnortes scheint nicht zumutbar, da dieser üblicherweise mit Schulwechseln verbunden ist. Erst recht dürfte ein Umzug über den Vergleichsraum (möglicherweise Landkreis W.) hinaus in ein anderes Bundesland die Grenze der Zumutbarkeit überschreiten.
e. Bevor der Antragsgegner nicht selbst mögliche Kostensenkungen beim Vermieter zu erreichen versucht, sind die Antragsteller nicht verpflichtet, in andere Wohnungen umzuziehen. Hält man die 165 m² große Wohnung der Antragsteller wegen der besonderen Umstände für zehn Personen noch für angemessen, ergibt sich nach den KdU-Richtwerten des Antragsgegners eine maximale Gesamtmiete von 1.074,65 EUR (KdU 4,81 EUR/m² x 165 = 697,45 EUR; Heizkosten: 20,40 EUR/m² x 165: 12 = 280,50 EUR). Die tatsächlichen KdU der Antragsteller liegen mit 1.018,54 EUR unter diesem Wert. Schließlich ist ein Wohnungswechsel als Kostensenkungsmaßnahme wegen zu hoher Heizkosten nur dann zumutbar, wenn in einer alternativ zu beziehenden Wohnung insgesamt tatsächlich niedrigere Bruttowarmkosten entstehen (BSG, Urteil vom 12. Juni 2013, B 14 AS 60/12 R).
2. Der Anordnungsgrund ist ebenfalls glaubhaft gemacht. Auch wenn es den Antragstellern trotz der nun schon länger dauernden Kürzungen gelungen ist, finanziell “irgendwie” durchzuhalten, kann ein Eilbedürfnis nicht verneint werden. Die Antragsteller haben glaubhaft gemacht, dass sie monatlich Teile des Regelbedarfs zum Ausgleich für die KdU aufwenden, um Mietrückstände und Kündigungsrisiken abzuwenden. Dies ist nicht dauerhaft hinzunehmen. Zudem dürfen die Anforderungen an den Anordnungsgrund auch wegen des sehr wahrscheinlichen Anordnungsanspruchs nicht überzogen werden.”