Berliner Zeitung am 27.09.2021 – Nach Volksentscheid: Initiative mahnt Umsetzung des Wählerwillens an
Mehrheit der Berliner votiert für Vergesellschaftung von Wohnungen großer Unternehmen. Die Wirtschaft bangt, die Parteien diskutieren die Folgen.
Die Initiative Deutsche Wohnen und Co enteignen drängt nach dem erfolgreichen Volkentscheid zur Vergesellschaftung von Wohnungen auf eine zügige Umsetzung des Bürgerwillens. Im Frühjahr nächsten Jahres könnte ein entsprechender Gesetzesentwurf ins Abgeordnetenhaus eingebracht werden, sagte der Sprecher der Initiative Rouzbeh Taheri am Montag. Für die Initiative sei es wichtig, dass der Beschluss des Volksentscheids umgesetzt werde, alle Maßnahmen für eine Vergesellschaftung der Wohnungen zu ergreifen. Das sei „ein eindeutiger Auftrag“, sagte Taheri, und bedeute, dass der Volksentscheid nicht benutzt werden dürfe, um andere Maßnahmen durchzusetzen.
Beim Volksentscheid am Sonntag hatte sich eine Mehrheit der Berliner für die Vergesellschaftung von Wohnungen großer Immobilienkonzerne ausgesprochen. Nach Angaben aus dem Büro der Landeswahlleiterin votierten 56,4 Prozent für die Enteignung von Wohnungen, 39 Prozent lehnten dies ab. Insgesamt stimmten 1.034.709 Berliner mit Ja, 715.214 mit Nein. Die Bedingung, dass neben einer Mehrheit zugleich 25 Prozent der Wahlberechtigten mit Ja stimmen müssen, damit der Volksentscheid erfolgreich ist, wurde ebenfalls erfüllt.
Besonders hoch fiel der Anteil der Ja-Stimmen mit gut 72 Prozent in Friedrichshain-Kreuzberg aus. In Mitte votierten rund 64 Prozent für eine Vergesellschaftung. Überall dort, wo der „Druck des Mietenwahnsinns“ besonders groß und die Einkommen niedrig seien, habe es eine „überdurchschnittliche Zustimmung“ gegeben, sagte Taheri. Überall dort, wo die Einkommen hoch seien, etwa in Einfamilienhausgebieten, sei die Zustimmung niedriger gewesen. Beim schlechtesten Ergebnis, in Steglitz-Zehlendorf, betrage die Zustimmung aber immer noch 44 Prozent.
Mieterverein spricht von fulminantem Erfolg
Ziel der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen ist, die Bestände von privatwirtschaftlichen Unternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen in Berlin zu vergesellschaften. Die Initiative beruft sich dabei auf Artikel 15 des Grundgesetzes. Darin ist formuliert, dass „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel“ zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden können – gegen eine Entschädigung. Die Schätzungen für eine Entschädigung, die sich auf 243.000 Wohnungen beziehen, bewegen sich zwischen zehn bis elf Milliarden Euro, die die Initiative ansetzt, und auf 36 Milliarden, mit denen der Senat kalkuliert.
Während der Berliner Mieterverein den Volksentscheid als „fulminanten Erfolg der Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ bezeichnet und die Umsetzung des Bürgervotums einfordert, reagieren die Verbände der Immobilienwirtschaft besorgt. Die Chefin des Verbandes Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) Maren Kern sagte, der Enteignungsvolksentscheid habe zwar eine Mehrheit bekommen, fast 40 Prozent der Berlinerinnen und Berliner hätten aber auch dagegen gestimmt. Mit dem Ergebnis des Entscheids müsse jetzt gleichwohl „umgegangen werden“.
Dabei gelte es, „die Spaltung der Stadt nicht weiter zu vertiefen“, so Kern. „Deshalb brauchen wir eine offene und ehrliche Diskussion darüber, wie es jetzt in der Berliner Wohnungspolitik weitergehen soll“, sagte sie. Berlins Wohnungsproblem lasse sich nicht durch Enteignungen lösen, sondern nur durch gemeinsame Anstrengungen für mehr Wohnraum. Dazu müssten alle an einem Strang ziehen. Am besten werde das mit einem „Bündnis für Neubau und Wohnen“ gelingen.
Giffey will Gesetzentwurf erarbeiten
Ähnlich äußerte sich die Industrie- und Handelskammer (IHK). „Zwar wurde dem Enteignungsvolksentscheid mehrheitlich zugestimmt, allerdings wurden mehrheitlich auch Parteien gewählt, die Enteignungen ablehnen“, erklärte IHK-Präsident Daniel-Jan Girl. „Das ist aus unserer Sicht vor allem ein deutliches Signal für die künftige Koalition, beim Thema Wohnungsbau und Mietenpolitik endlich für spürbare Entlastungen des angespannten Marktes zu sorgen.“
Die Parteien reagierten unterschiedlich auf den Volksentscheid. SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey sprach sich im RBB-Inforadio dafür aus, einen Gesetzentwurf zur Vergesellschaftung zu erarbeiten. „Aber dieser Entwurf muss dann eben auch verfassungsrechtlich geprüft werden“, sagte sie. Der künftige Senat müsse sehr genau schauen, was verfassungsrechtlich möglich sei. Berlin dürfe sich kein weiteres negatives Urteil beim Bundesverfassungsgericht holen, warnte Giffey. Das höchste deutsche Gericht hatte zuletzt den Berliner Mietendeckel gekippt.
Die Spitzenkandidatin der Grünen Bettina Jarasch sagte, das Thema gehöre in Koalitionsverhandlungen. Die Politik müsse nun prüfen, ob eine Umsetzung des Bürgervotums für Enteignungen machbar sei. „Es gibt für ein solches Gesetz aber noch viele rechtliche und praktische Fragen zu klären“, sagte Jarasch der Deutschen Presseagentur.
Initiative will Druck aufrecht erhalten
Einer der möglichen künftigen Regierungspartner der SPD, die FDP, reagierte mit scharfer Kritik auf den Volksentscheid. Die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen habe es „mit fadenscheinigen Argumenten und fragwürdigen Mitteln geschafft, ausreichend Berlinerinnen und Berliner für die Initiative gewinnen zu können“, sagte der FDP-Abgeordnete Stefan Förster. „Dabei haben sie den Menschen jedoch Sand in die Augen gestreut: Dass die Ausgaben von 36 Milliarden Euro unsere Stadt in den finanziellen Ruin führen, dass dadurch tausende Jobs in Gefahr geraten und wir ins Risiko laufen, die zentrale Daseinsfürsorge unserer Stadt nicht mehr bezahlen zu können, das haben die Aktivisten verschwiegen“, so Förster.
Der Berliner Mieterverein stellte unterdessen klar, dass der Volksentscheid für die Koalitionsverhandlungen bedeute, „das Thema Mieten und Wohnen prioritär zu behandeln“. Außerdem müsse von den Parteien geprüft werden, in welcher Konstellation der durch das Volksbegehren deutlich gewordene Wille der Wählerinnen und Wähler umgesetzt werden könne.
Was auch immer die Parteien planen: Die Initiative Deutsche Wohnen und Co enteignen erklärte, sie werde Sondierungen und Koalitionsgespräche „eng begleiten“ und „genau beobachten“, wie die einzelnen Parteien sich äußern. Die Initiative sei sicher, dass der Wille der Berliner ohne ihren Druck nicht umgesetzt werde. Falls die Politiker dem Volksentscheid am Ende nicht folgen sollten, gebe es immer noch die Mittel der direkten Demokratie, so Taheri. „Wir sind jederzeit in der Lage, falls die Politik unseren Vorschlag ignoriert, auch einen Gesetzesvolksentscheid auf den Weg zu bringen.“