Aus der Rubrik “Wissenswertes”:

Liegt bei einer schweren und anhaltenden depressiven Störung, die bei einer Räumung der Wohnung zu einem psychischen Zusammenbruch und einer erheblichen Verschlechterung des gesundheitlichen Gesamtzustandes führen würde, eine nicht zu rechtfertigende Härte vor, hinter der das berechtigte Eigenbedarfsinteresse zurücktreten muss?

Die Antwort des Landgerichts Berlin (LG Berlin – 65 S 281/14, Urteil vom 08.07.2015) lautet: Ja!

Zur Begründung führt das LG Berlin in seiner vorgenannten Entscheidung unter II. 1. wie folgt aus: “Nach dem Ergebnis der in zweiter Instanz nachgeholten ergänzenden Beweisaufnahme durch Einholen eines psychiatrischen Gutachtens steht zur Überzeugung der Kammer fest, § 286 ZPO, dass eine Beendigung des Mietverhältnisses für den Beklagten zu 2) eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen der Klägerin nicht zu rechtfertigen ist.

Der unbestimmte Rechtsbegriff der “Härte” erfasst alle Nachteile wirtschaftlicher, finanzieller, gesundheitlicher, familiärer oder persönlicher Art, die infolge der Vertragsbeendigung auftreten können. Hierzu können Eingriffe in die beruflichen Verhältnisse ebenso zählen wie die Verwurzelung eines Mieters in höherem Lebensalter in einem bestimmten Wohnviertel, das Fehlen von angemessenem Ersatzwohnraum zu zumutbaren Bedingungen, eine schwere Krankheit oder körperliche bzw. geistige Behinderung. Der Eintritt der Nachteile muss nicht mit absoluter Sicherheit feststehen; es genügt vielmehr, wenn die Nachteile mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Nicht ausreichend ist hingegen die lediglich theoretische Möglichkeit des Eintritts von Nachteilen (vgl. BGH Urt. v. 20. Oktober 2004 – VIII ZR 246/03, in: NZM 2005, 143 = Grundeigentum 2005, 174; Schmidt-Futterer/Blank Mietrecht, 11. Aufl. 2013, § 574 Rn. 20). Die mit einem Umzug unvermeidlichen Unannehmlichkeiten stellen keine Härtegründe dar (vgl. BGH Urt. v. 16. Oktober 2013 – VIII ZR 57/13, in: NJW 2013, 1596 = Grundeigentum 2013, 674).

Entsprechend den Vorgaben des Beweisbeschlusses der Kammer vom 26. November 2014 hat der Sachverständige hier die Gefahr einer ernsthaften gesundheitlichen Schädigung nicht erst bei einer Räumung, sondern schon bei Erlass eines Räumungsurteils überzeugend festgestellt.

Der Sachverständige erlebte den Beklagten zu 2) als freundlich und um Mitwirkung bemüht. Ungeachtet des – dem Beklagten bekannten – Ziels der Untersuchung sei er sichtlich bestrebt gewesen, einen seelisch intakten Eindruck zu vermitteln. Aufgrund ausgeprägter Persönlichkeitseigenschaften wie Offenheit und Geradlinigkeit, glaubhafter Bemühungen uni Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit, die über Beharrlichkeit hinaus schon ins Zwanghafte übergingen, sei der Beklagte “noch nicht einmal (…) zu einer instrumentalisierenden Darstellung der eigenen psychischen Situation imstande” gewesen und habe “es nicht vermocht, die ihm indirekt suggerierten suizidalen Tendenzen zu bekräftigen.” Depressivität und suizidale Grübeleien seien für den Beklagten vielmehr mit seinem Selbstbild und Rollenverständnis aufgrund seiner (geschlechtsspezifisch männlichen) Sozialisation nicht vereinbar. Der Beklagte erwies sich im Übrigen als gedanklich schwerfällig, wenig flexibel, auf Nebensächlichkeiten und sein körperliches Befinden eingeengt.

Der Sachverständige hat beim Beklagten ein spezifisches Muster von – für das Zusammenleben in der Gemeinschaft durchaus problematischen – Persönlichkeitseigenschaften und Abwehrmechanismen festgestellt, die auf den vom Beklagten in der Kindheit entwickelten und seitdem (erfolgreich) praktizierten Überlebensstil zurückzuführen sind. Eigenschaften wie die fehlende Fähigkeit, gegensätzliche Standpunkte auch nur zu erfassen, das beharrende Festhalten an der eigenen Sicht der Dinge, stereotype Argumentationen und fehlende gedankliche Flexibilität sowie Abwehrmechanismen wie Verharmlosung, Vermeidung, Verkennung und Verleugnung seien in der Vergangenheit für den Beklagten ein hilfreiches Gerüst gewesen, um wiederholte, potenziell stark traumatisierende, (lebens-)bedrohliche Krisen – beginnend mit dem frühen Tod der Eltern, Vertreibung, das Überleben (ohne Eltern) im Nachkriegsdeutschland – zu bewältigen. Der vom Beklagten seit der Kindheit entwickelte Überlebensstil habe frühzeitig sein Selbstwertgefühl stabilisiert und verhindert, dass er in ausgeprägtere depressive Krisen geriet, die – so der Sachverständige – seine psychische Stabilität vollständig bedroht hätten. Die Abwehrmuster erkennt der Sachverständige aktuell im Umgang des Beklagten mit seiner Prostata-Krebs-Erkrankung wieder.

Das in der Vergangenheit hilfreiche “Gerüst” hindert den Beklagten aus der Sicht des Sachverständigen jetzt jedoch daran, das tatsächliche Ausmaß der Gefährdung durch eine mögliche Verurteilung zur Räumung zu erfassen, so dass er in seiner persönlichen Vorstellungswelt für anderweitige Überlegungen weder zugänglich, noch wenigstens argumentativ erreichbar ist. Dies entspricht dem Eindruck, den die Kammer im Termin der mündlichen Verhandlung vom 26. November 2014 vom Beklagten gewonnen hat.

Als schwer wiegend erweist sich weiter, dass der Beklagte den seit Jahrzehnten von ihm und seiner Familie genutzten Wohnraum nach den Feststellungen des Sachverständigen inzwischen als Teil seiner persönlichen Existenz betrachtet. Sowohl die Wohnung selbst als auch das unmittelbare Wohnumfeld einschließlich Garten und Nachbarschaft seien emotional hoch besetzt und Ausdruck der eigenen Identität im Sinne eines erweiterten “Selbstes.” Die Nutzung der Wohnung werde als unverzichtbarer Lebensinhalt angesehen. Sollte es zu einem Verlust der Wohnung kommen, würde dies – so der Sachverständige – beim Beklagten zwangsläufig ein massives Bedrohungs- und Vernichtungsgefühl auslösen. Ein möglicher Verlust der Wohnung stelle für den Beklagten einen dem Tod des Ehepartners vergleichbaren massiven Einschnitt dar.

Der Sachverständige fügte in der mündlichen Erläuterung seiner schriftlichen Feststellungen hinzu, dass die Wohnung der Beklagten unverändert im Stil der 60er Jahre eingerichtet sei. Sie sei deutlicher Ausdruck eines Lebensgefühls, des Lebens, das der 82-jährige Beklagte mit seiner Frau und seinen fünf Kindern dort seit September 1967 verbracht habe.

Für den Sachverständigen folgt aus seinen Feststellungen, dass ein Zusammenbruch des Beklagten vorhersehbar und für ihn nicht mehr zu bewältigen sei, wenn der äußere Rahmen – die Wohnung – wegfiele. Die vom Sachverständigen beim Beklagten zudem festgestellten ausgeprägten kognitiven Defizite schränkten seine Fähigkeit zu einer erfolgreichen Krisenabwehr zusätzlich massiv ein. Sie würden verstärkt durch den stattfindenden hirnorganischen und körperlichen Abbau. Aufgrund der Einschränkungen seiner psychomentalen Flexibilität sei der Beklagte – so der Sachverständige – nicht mehr in der Lage, auf seine bisherigen Ressourcen und erfolgreich praktizierten Bewältigungsstrategien zurückzugreifen, falls es zu einer weiteren psychischen Belastung und Zuspitzung im Rahmen des Räumungsrechtsstreits komme.

Die vom Beklagten bei Realisierung der Zwangsräumung subjektiv empfundene Hilflosigkeit aufgrund der mangelnden Kontrollierbarkeit der äußeren Bedingungen lässt aus der Sicht des Sachverständigen einen vollständigen Verlust des seelischen Gleichgewichts erwarten, der dadurch verstärkt werde, dass sich der Betroffene störungsbedingt bislang nicht adäquat auf ein derartiges Lebensereignis vorzubereiten vermocht habe. Dieser Zusammenbruch umfasst aus der Sicht des Sachverständigen zweifellos die Gefahr von Affektdurchbrüchen mit unvorhersehbaren Kurzschlussreaktionen, die auch suizidale oder parasuizidale Handlungen einschließen dürften. Die individuelle Reaktion und Ausgestaltung sei stark von den Begleitumständen abhängig und könne nur schwer prognostiziert werden. Die bereits jetzt erkennbare Brüchigkeit einer erfolgreichen Depressions- und Konfliktabwehr spreche beim Beklagten für ein nicht zu unterschätzendes, prozentual aber nicht genau bezifferbares Risiko für einen Selbstmord im Falle einer Räumung bzw. Räumungsankündigung. Dieses liege beim Beklagten deutlich höher als für die allgemeine Bevölkerung, auch für Personen gleichen Alters.

Selbst wenn ein Selbstmord durch flankierende Maßnahmen vorübergehend begegnet werden könne, geht der Sachverständige mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einer unumkehrbaren Verselbständigung der bereits jetzt diagnostizierten depressiven Symptomatik aus. Der Beklagte werde die Räumung als Scheitern eigener Bemühungen erleben und als komplettes Infragestellen seiner Lebensleistung interpretieren. Er erscheine mit seiner Wohnumgebung so stark verwachsen, dass die mit deren etwaigem Verlust verbundene Trauer für ihn kaum zu bewältigen erscheine. Es müsse mit einer schweren und anhaltenden despressiven Störung gerechnet werden, die mit Grübeleien, anhaltender Antriebs- und Interesselosigkeit, sozialem Rückzug, Scham, Verbitterung und resignativer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit verbunden sei.

Zugunsten der Klägerin ist zwar zu berücksichtigen, dass dem Mieter grundsätzlich die Mitwirkung an der Beseitigung von Räumungshindernissen und die Verpflichtung obliegt, sich – soweit möglich und angezeigt – in eine zumutbare ärztliche Behandlung zu begeben (vgl. BGH Beschl. v. 22.11.2007 –I ZB 104/06 Rn. 9, in: NJW 2008, 1000). Nach den auch insoweit überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen ist die mit dem Ausspruch des Räumungsurteils zu erwartende Verfestigung der bestehenden depressiven Symptomatik mit der Folge einer schweren Altersdepression therapeutischen Maßnahmen auch auf längere Sicht jedoch nicht zugänglich. Dies gelte sowohl hinsichtlich sozialtherapeutischer und psychotherapeutischer Maßnahmen als auch hinsichtlich einer antidepressiven Pharmakotherapie im Rahmen einer fachpsychiatrischen Behandlung. Der unmittelbaren Selbstmordgefahr könne zwar durch vorübergehende flankierende Maßnahmen, etwa durch kontinuierliche Überwachung und Unterstützung durch die Angehörigen, für einen Übergangszeitraum begegnet werden. Den langfristigen Auswirkungen des Räumungsurteils könne aber auch durch eine ambulante oder stationäre Fachbehandlung nicht ausreichend begegnet werden.

Im Rahmen der mündlichen Erörterung hat der Sachverständige diesbezüglich weiter erläutert, dass depressive Erkrankungen im höheren Lebensalter ohnehin nur schwer therapierbar seien. Psychopharmaka würden schon in jüngerem Alter bei einer – wie hier gegebenen – endogenen Depression kaum helfen, müssten daher deutlich höher dosiert werden, dies mit problematischen Nebenwirkungen wie etwa erhöhter Sturzgefahr einher gehen. Die Erfolgsquoten seien mit 30 35 % als eher bescheiden anzusehen.

Der Einwand der Klägerin, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen beim Beklagten nicht von einer konkreten Suizidgefahr auszugehen sei, das Entstehen einer Altersdepression keinen Härtefall darstelle, sondern dem allgemeinen Lebensrisiko zuzuordnen sei, trägt aufgrund der oben dargestellten, vom Sachverständigen sorgfältig ermittelten und begründeten konkreten Umstände nicht. Unabhängig davon sind nach den höchstrichterlich entwickelten Maßstäben nicht nur sichere Folgen einer Räumung zu berücksichtigen, sondern kann bereits die ernsthafte Gefahr einer erheblichen gesundheitlichen Verschlechterung die Annahme einer unzumutbaren Härte rechtfertigen (vgl. BGH, Urteil vom 16. Oktober 2013, a.a.O.; vgl auch: BGH Beschl. v. 13. August 2009 – 1 ZB 11/09 Rn. 8ff, in: NZM 2009, 816).

Vor diesem Hintergrund kommt es daher letztlich nicht darauf an, mit welchem genauen Grad der Wahrscheinlichkeit beim Beklagten ggf. sogar ein Suizid im Falle einer Räumungsverurteilung zu befürchten ist. Nach den Ausführungen des Sachverständigen wäre jedenfalls sicher mit einem psychischen Zusammenbruch und einer erheblichen Verschlechterung des gesundheitlichen Gesamtzustandes des Beklagten zu rechnen. Die Auswirkungen einer Räumungsverurteilung gehen damit im vorliegenden Fall weit über diejenigen negativen Folgen hinaus, die typischerweise bei einem von einer Räumung betroffenen Mieter eintreten.

Auch die nach Feststellung des Härtegrundes vorzunehmende Abwägung des daraus folgenden Bestandsinteresse des Mieters gegen das Erlangungsinteresse des Vermieters auf der Grundlage einer sorgfältigen Sachverhaltsfeststellung führt hier dazu, dass den Belangen des Beklagten ein größeres Gewicht beizumessen ist (vgl. BGH Urt. v. 16. Oktober, 2013, a.a.O.; BerlVerfGH Beschl. v. 1. Juni 2010 – VerfGH 13/10, in BeckRS 2010, 33490; Schmidt-Futterer/Blank, Mietrecht, 11. Aufl., 2013, § 574 Rz. 64). Dabei sind die durch die Wertentscheidung des Grundgesetzes gezogenen Grenzen zu beachten: die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs.1 S.1 GG wirkt zugunsten des Mieters und des Vermieters; neben dem Eigentum des Vermieters genießt auch das Besitzrecht des Mieters den Schutz des Art. 14 GG (BVerfG Beschl. v. 26. Mai 1993 – 1 BvR 208/93, in: NJW 1993, 2035; Kammerbeschl. v. 20. Mai 1999 – 1 BvR 29/99, in: NJW-RR 1999, 1097). Bei der Interessenabwägung dürfen die Gericht nicht in unzulässiger Weise in die Lebensplanung der Parteien eingreifen, insbesondere nicht eigene Wertentscheidungen an die der Parteien setzen (BVerfG Kammerbeschl. v. 20. Mai 1999, a.a.O.; BGH, Urteil vom 04. März 2015 – VIII ZR 166/14).

Zwar stellt das Anliegen der Klägerin, die streitgegenständliche Wohnung ihrem mit ihr zusammen lebenden erwachsenen Sohn zur Verfügung zu stellen, ein berechtigtes, nachvollziehbares und gewichtiges Interesse im Rahmen der Ausübung ihrer eigentumsrechtlichen Befugnisse dar. Bei der gebotenen Gesamtschau überwiegt dieses jedoch nicht das nicht nur auf das grundrechtlich geschützte Besitzrecht, sondern auch auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit gestützte erhebliche Bestandsinteresse des Beklagten am Erhalt der Wohnung, die für ihn und sein psychisches Gleichgewicht sowie in der Folge auch seine körperliche Verfassung aufgrund der besonderen Einzelfallumstände von zentraler Bedeutung ist. Die Kammer hat im Rahmen der Interessenabwägung auch berücksichtigt, dass sich das Zusammenleben der Parteien in dem nur von ihnen bewohnten Gebäude, insbesondere auch aufgrund der besonderen Persönlichkeitsstruktur des Beklagten, nicht einfach gestaltet. Sie ist jedoch zu dem Ergebnis gelangt, dass dies einer Fortsetzung des Mietverhältnisses derzeit (noch) nicht entgegensteht.”