Aus der Rubrik “Wissenswertes”:

 

Ist eine Verwertungskündigung möglich, wenn ein zweiter Rettungsweg fehlt?

Die Antwort des Landgerichts Berlin (LG Berlin – 65 S 121/18, Urteil vom 07.11.2018) lautet: Nein!

Zur Begründung führt das Landgericht Berlin in seiner vorgenannten Entscheidung unter I. wie folgt aus: „Frei von Rechtsfehlern hat das Amtsgericht die Räumungsklage abgewiesen. Die Klägerin, eine Kapitalgesellschaft mit Sitz in München, hat keinen Anspruch auf Räumung und Herausgabe der von den Beklagten inne gehaltenen Räumlichkeiten aus § 546 Abs. 1 BGB, denn die von der Klägerin mit Schreiben vom 27. Februar 2017 und in der Klageschrift vom 19. Januar 2018 ausgesprochenen Kündigungen haben das Mietverhältnis, in das die Klägerin gemäß § 566 Abs. 1 BGB eingetreten ist, nicht beendet. Zutreffend hat das Amtsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 573 Abs. 1, 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB verneint.

Die Klägerin übersieht schon im Ansatz ganz grundlegend, dass das soziale Wohnraummietrecht – seiner an Art. 14 GG zugunsten des Mieters und des Vermieters zu messenden Aufgabe gemäß – den vertragstreuen Mieter gegen einen Verlust seiner Wohnung schützt, der nicht durch berechtigte Interessen des Vermieters begründet ist. Die Wohnung als der räumliche Mittelpunkt freier Entfaltung seiner Persönlichkeit, als Freiraum eigenverantwortlicher Betätigung, kann ihm nicht ohne beachtliche Gründe durch Kündigung entzogen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.05.1993 – 1 BvR 208/93NJW 1993, 2035, [2036], beck-online).

Solche Gründe hat das Amtsgericht hier zu Recht unter Berücksichtigung der vorgenannten sowie weitergehend in der höchstrichterlichen Rechtsprechung und Literatur entwickelten Maßstäbe nicht feststellen können.

a) Die Voraussetzungen einer Verwertungskündigung nach § 573Abs. 2 Nr. 3 BGB liegen nicht vor.

Der Kündigungstatbestand setzt voraus, dass der Vermieter durch das bestehende Wohnraummietverhältnis an einer wirtschaftlichen Verwertung “des Grundstücks”, also an einer Realisierung des diesem inne wohnenden materiellen Werts gehindert ist (BGH, Urt. v. 29.03.2017 – VIII ZR 45/16WuM 2017, 333).

Die Klägerin sieht sich nach ihrem eigenen Vorbringen an der Fortsetzung des Wohnraummietverhältnisses (nur) deshalb gehindert, weil ihr die Mittel zur Finanzierung von Baumaßnahmen fehlen, zu deren Durchführung sie sich aus Gründen des Brandschutzes (zweiter Rettungsweg), das heißt aus öffentlich-rechtlichen Gründen verpflichtet sieht. Wenn die Klägerin im Kündigungsschreiben und in der Klageschrift, in der sie die Kündigung erneut ausspricht, angibt, die Räumlichkeiten seien öffentlich-rechtlich “nicht zu Wohnzwecken gewidmet” und die Fortsetzung der Nutzung zu Wohnzwecken setze einen Antrag auf Nutzungsänderung voraus, die Genehmigung der “Nutzungsänderung” ihrerseits die Durchführung “umfangreicher Baumaßnahmen”, so vermittelt sie den Eindruck, die Nutzung der Räume für gewerbliche Zwecke sei ohne weiteres möglich.

Zutreffend haben die Beklagten in diesem Zusammenhang jedoch bereits erstinstanzlich darauf hingewiesen, dass sich der Anwendungsbereich der von der Klägerin geltend gemachten Vorschriften zur Erforderlichkeit eines zweiten Rettungsweges – hier § 33 BauO Bln – nicht auf Wohnräume beschränkt, sondern allgemein auf Aufenthaltsräume, namentlich auch Praxen und selbständige Betriebsstätten, mithin auch Gewerberäume bezieht.

Danach wären die Kündigungen nicht auf eine wirtschaftliche Verwertung, sondern das Gegenteil gerichtet, nämlich Leerstand. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Leerstand in irgendeiner Weise die Möglichkeiten der Realisierung des dem “Grundstück inne wohnenden Werts” auch nur verbessern würde, denn Mieteinnahmen fielen komplett weg, die auf dem Grundstück liegenden Lasten müssten von der Klägerin dennoch aufgebracht werden, dies, ohne dass dem Einnahmen gegenüber stünden.

Das ist weder vernünftig noch nachvollziehbar, noch ein Grund, der einen (erheblichen) Nachteil infolge der Fortsetzung des Mietverhältnisses zu begründen geeignet wäre.

b) Folgerichtig hat die Klägerin ihre Kündigungen (nur) auf § 573Abs. 1 Satz 1 BGB gestützt.

Danach kann der Vermieter kündigen, wenn er ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses hat. Die Kündigung zum Zwecke der Mieterhöhung ist ausgeschlossen.

Die Beantwortung der Frage, ob ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses vorliegt, entzieht sich nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs einer verallgemeinernden Betrachtung. Sie erfordert vielmehr eine umfassende Würdigung der Umstände des Einzelfalls, denn die Generalklausel des § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB umfasst eine Vielzahl möglicher Kündigungstatbestände (st Rspr., vgl. Urt. v. 29.03.2017 –VIII ZR 45/16WuM 2017, 333). Die Kündigungstatbestände in § 573Abs. 2 BGB (§ 564b Abs. 2 BGB aF) enthalten nach der Konzeption des Gesetzgebers – schon zur Vorgängerregelung in § 564b BGB aF – nur eine beispielhafte, nicht aber abschließende Aufzählung der Umstände, die als berechtigtes des Vermieters anzuerkennen sind (vgl. BGH, Urt. v. 29.03.2017, aaO, Rn. 20, mwN). Die Aufzählung in § 573 Abs. 2 BGB schließt die Anerkennung eines von Absatz 2 der Regelung nicht erfassten Kündigungstatbestandes als berechtigtes Interesse im Sinne des Absatzes 1 der Regelung weder von vornherein aus noch ist es zulässig, einen von § 573 Abs. 2 Ziff. 2 oder 3 BGB nicht erfassten Bedarf bzw. ein nicht davon erfasstes Interesse als ungeschriebene weitere Kategorie eines typischerweise anzuerkennenden Vermieterinteresses an der Beendigung des Wohnraummietverhältnisses zu behandeln. Aus der Aufzählung von Fallgruppen ergibt sich nur, dass es für das Vorliegen eines berechtigten Interesses im Sinne des § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB allein darauf ankommt, ob das geltend gemachte Interesse ebenso schwer wiegt wie die in § 573 Abs. 2 BGB beispielhaft aufgeführten Kündigungstatbestände.

aa) Danach ist hier zunächst zu berücksichtigen, dass die von der Klägerin als Vermieterin ausgesprochenen Kündigungen nicht auf Pflichtverletzungen der beklagten Mieter gestützt werden, § 573Abs. 2 Nr. 1 BGB; auch insoweit ist nach ihrem Vorbringen das Gegenteil der Fall: die Klägerin verletzt ihre Pflichten aus dem Mietverhältnis.

Wenn weder die Vorvermieter noch die nach § 566 BGB in das Mietverhältnis eingetretene Klägerin den nach der BauO – ihrem Vorbringen nach – zwingend und dringend erforderlichen Zustand herstellen, so verstößt sie – ebenso wie die Vorvermieter – im Verhältnis zu den Beklagten gegen Pflichten aus dem zu diesen bestehenden Vertragsverhältnis, § 535 Abs. 1 Satz 2 BGB. Das Mietverhältnis wurde als Wohnraummietverhältnis begründet; in einem dazu geeigneten Zustand hatten die Vorvermieter die Räume zu überlassen; in diese Pflicht ist die Klägerin – im Verhältnis zu den Beklagten ohne Abstriche – nach § 566 Abs. 1 BGB eingetreten.

Wird zugunsten der Klägerin davon abgesehen, dass eine Pflichtverletzung des Vermieters nach dem klaren Wortlaut des beispielhaft genannten Kündigungsgrundes in § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB gänzlich ungeeignet ist, ein berechtigtes Interesse des vertragsuntreuen Vermieters an der Beendigung des Mietverhältnisses zu einem vertragstreuen (Wohnraum-)Mieter zu begründen, so führt auch die weitergehende Würdigung der Umstände des Einzelfalls nach den vorstehend dargestellten Grundsätzen des BGH zu keinem anderen Ergebnis. Selbst wenn im Rahmen der wertenden Betrachtung zusätzlich einbezogen wird, dass – so die Behauptung der Klägerin – wirtschaftliche Gründe sie hindern, ihre Vertragspflicht zu erfüllen, so begründet dies – entgegen ihrer Auffassung – kein vergleichbar gewichtiges Interesse der Klägerin an der Beendigung des Mietverhältnisses.

Nach der Rechtsprechung des BGH ist anerkannt, dass beim Ausspruch einer Kündigung wegen Zahlungsverzugs oder unpünktlicher Mietzahlungen des Mieters, das heißt eines Verstoßes des Mieters gegen seine Pflichten aus § 535 Abs. 2 BGB, in die Prüfung des Tatbestandsmerkmals des Verschuldens die Gründe einbezogen werden können, die den Mieter hinderten, seine Pflichten zu erfüllen; der Mieter kann sich entlasten, indem er im Einzelnen die entsprechenden Gründe darlegt, in diesem Zusammenhang (auch) seine sonstigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse offen legt; seine Darlegungen müssen sich auf sämtliche Umstände beziehen, die für einen behaupteten Ausschluss der Leistungsfähigkeit von Bedeutung sein können (vgl. nur BGH, Beschluss vom 20.07.2016 – VIII ZR 238/15WuM 2015, 682).

Diesen Anforderungen wird der Vortrag der Klägerin nicht einmal ansatzweise gerecht, wie das Amtsgericht im Rahmen seiner Entscheidung ebenfalls vollkommen zutreffend beanstandet hat. Zu Unrecht vermisst die Klägerin erstinstanzlich über die bereits in der Ladung zum frühen ersten Termin ausführlichen Hinweise des Amtsgerichts hinaus diesbezüglich einen weitergehenden Hinweis. Sie übersieht die Entbehrlichkeit des Hinweises nach § 139 Abs. 2 ZPO. Die Beklagten haben die Unzulänglichkeit des Vortrags der Klägerin in der Klageerwiderung umfänglich gerügt. Hinzu kommt, dass sich auch die Darstellung in der Berufungsbegründung auf die Behauptung einer nicht näher ausgeführten Darlehensaufnahme für das zweite – wohl leerstehende – Fabrikgebäude beschränkt, die mit der hier gegenständlichen Immobilie abgesichert (und ausgeschöpft) sein soll. Es erschließt sich – mangels konkreter Darlegungen – schon nicht das von der Klägerin bestimmte Prioritätsverhältnis der Sanierung. Zu den weiteren Vermögensverhältnissen der klagenden Kapitalgesellschaft mit Sitz in München fehlen jegliche Angaben.

Vor diesem Hintergrund rechtfertigt auch die Bezugnahme der Klägerin auf die – ohnehin allenfalls dem Rechtsgedanken nach anwendbare – Opfergrenze des § 275 Abs. 2 BGB keine andere (rechtliche) Bewertung. Die Klägerin verkennt hier schon die hohen Anforderungen, die der Gesetzgeber selbst bei der Neufassung der Vorschrift im Rahmen der Schuldrechtsmodernisierung als Anhalt in die Gesetzesbegründung aufgenommen (vgl. BT-Ds. 14/6040, S. 131) und die der Bundesgerichtshof fortentwickelt hat (vgl. BGH, Urt. v. 21.04.2010 – VIII ZR 131/09WuM 2010, 348). Danach reicht es jedenfalls nicht aus, lediglich einen behaupteten Kostenaufwand von 480.000 Euro in den Raum zu stellen. Da § 275 Abs. 2 BGB ein Missverhältnis voraussetzt, erschließt sich von selbst, dass den Kosten irgendeine Angabe oder ein Interesse gegenübergestellt werden müsste, die bzw. das auf ein Missverhältnis schließen lässt. Unabhängig davon ist die Klägerin sowohl erst- als auch zweitinstanzlich darüber hinweggegangen, dass Baumaßnahmen gerade nicht zwingend sind, sondern ein zweiter Rettungsweg auch eine mit Rettungsgeräten der Feuerwehr erreichbare Stelle der Nutzungseinheit sein kann, vgl. § 33 BauO Berlin.

Entscheidend hinzu kommt, dass die Klägerin argumentativ ausblendet, dass sie gegen die Vorvermieter, ihre Vertragspartner im Rahmen des Erwerbs der Immobilie, ein rechtskräftiges Urteil erstritten hat, das diese verpflichtet, ihr den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass – unter anderem – das Geschoss des Gebäudes, in dem sich die an die Beklagten vermietete Wohnung befindet, nicht zur Wohnnutzung genehmigt ist und eine Genehmigung erst durch die Klägerin herbeigeführt werden muss.

Nach den eingangs dargestellten verfassungsrechtlich zu beachtenden Maßstäben und der diese Grundsätze beachtenden Konzeption des Gesetzgebers bei der Gestaltung der Kündigungstatbestände des § 573 BGB wäre die Klägerin bei einem seit 2008 bestehenden Wohnraummietverhältnis gegenüber vertragstreuen Mietern ersichtlich gehalten, sich im Verhältnis zu den Vorvermietern schadlos zu halten.

Ein berechtigtes Interesse der Klägerin ergibt sich danach selbst dann nicht, wenn – im Widerspruch zu den höchstrichterlich entwickelten, am GG orientierten Maßstäben, zudem contra legem – der Kündigungstatbestand des § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB im Rahmen des § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB in sein Gegenteil verkehrt würde.

bb) Zu Recht halten die Beklagten die von der Klägerin ausgesprochenen Kündigungen auch unter dem Gesichtspunkt der vom Bundesgerichtshof entwickelten Maßstäbe zur Vorratskündigung für unwirksam.

Selbst wenn das Bezirksamt – wie nunmehr in der Berufung erstmals vorgetragen – zu einem nicht näher bezeichneten Zeitpunkt den Ausspruch einer Nutzungsuntersagung mündlich angedroht haben sollte, so stellt sich die Kündigung als Vorratskündigung dar.

Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, wann dies geschehen sein und welche konkreten Bedingungen das Bezirksamt gestellt haben soll. § 33 BauO Bln erfordert – wie ausgeführt – mitnichten die bauliche Errichtung eines zweiten Rettungsweges.

Nach den vom Bundesgerichtshof zu den Kündigungstatbeständen des § 573 Abs. 2 Nr. 2 und 3 BGB entwickelten Grundsätzen reicht für den Ausspruch einer auf Eigenbedarf gestützten Kündigung ein noch unbestimmtes Interesse einer möglichen späteren Nutzung nicht aus; vielmehr muss sich der Nutzungswunsch so weit “verdichtet” haben, dass ein konkretes Interesse an einer alsbaldigen Eigennutzung besteht (BGH, Urt. v. 23.09.2015 – VIII ZR 297/14WuM 2015, 677). Im Fall einer Kündigung nach § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB muss sich das Verwertungsinteresse hinreichend konkretisiert haben. Auch im Rahmen dieses Kündigungstatbestandes ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu prüfen, ob lediglich das – nicht ausreichende – noch unbestimmte Interesse einer möglichen späteren Verwertung besteht oder ob sich der Verwertungswunsch bereits soweit verdichtet hat, dass ein konkretes Interesse an der alsbaldigen Umsetzung der im Kündigungsschreiben dargelegten Pläne angenommen werden kann (vgl. BGH, Urt. v. 27.09.2017 – VIII ZR 243/16WuM 2017, 656).

Die Klägerin stützt die Kündigung letztlich auf die (bloße) Befürchtung, das Bezirksamt könne die Nutzung der zum 1. Juli 2008 zu Wohnzwecken vermieteten Räumlichkeiten untersagen. An weiterem Vortrag fehlt es.”