Aus der Rubrik “Wissenswertes”:

Spricht bei Glatteisunfällen ein Anschein dafür, dass die Unfallverletzung bei Beachtung der Streupflicht vermieden worden wäre, wenn der Unfall innerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht stattgefunden hat?

Die Antwort des Kammergerichts Berlin (KG Berlin – 7 U 102/14, Urteil vom 02.06.2015) lautet: Ja!

Zur Begründung führt das KG Berlin in seiner vorgenannten Entscheidung unter B. I. 1. a) bis c) bb) wie folgt aus: “a) Nach gefestigter Rechtsprechung spricht bei Glatteisunfällen ein Anschein dafür, dass die Unfallverletzung bei Beachtung der Streupflicht vermieden worden wäre, wenn der Unfall innerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht stattgefunden hat. Voraussetzung des Anscheinsbeweises ist allerdings, dass der Geschädigte die tatsächlichen Voraussetzungen bewiesen hat, aus denen nach den Grundsätzen der Verkehrssicherungspflicht eine Streupflicht erwächst. Wenn der Streupflichtige auf einem breiteren Bürgersteig nur eine Mindestbreite (1,50 m) abstreuen muss, kann er sich bei Nichtbeachtung der Streupflicht nicht darauf berufen, er hätte ohnehin nicht an der Unfallstelle (in Fahrbahnnähe), sondern entlang seiner Grundstücksgrenze gestreut. Ein Anlieger, der überhaupt nicht gestreut hat, kann nicht verlangen, so behandelt zu werden, als sei seine Streupflicht auf einen Teil des Bürgersteigs beschränkt (OLG Celle, Urteil vom 2.2.2000 – 9 U 121/99 – m.w.N.).

b) Diesen Rechtsgrundsätzen schließt sich der Senat im vorliegenden Fall an. Fest steht, dass die Beklagte ihrer Streupflicht nicht nachgekommen ist; denn der Zeuge … hat bekundet, dass der gesamte Gehweg am Unfalltag nicht von Schnee und Eis geräumt war. Der Zeuge hatte damit auch keine Möglichkeit, sich auf einem geräumten Teil des Gehwegs sicher zu bewegen. Ohne jegliche Räumung konnte er daher den Sturz gar nicht vermeiden, weil ihm nichts anderes übrig blieb, als sich auf Schnee und Eis fortzubewegen. Damit hat die Beklagte den Sturz zumindest dadurch verursacht, dass sie ihrer Verkehrssicherungspflicht nicht nachgekommen ist und dem Zeugen keine Gelegenheit gegeben hat, auf einem sicheren Teil des Gehwegs zu laufen. Das Risiko eines Sturzes hat die Beklagte dadurch erhöht und muss sich die Folgen zurechnen lassen.

c) Entlasten könnte sich die Beklagte nach den eingangs erwähnten Rechtsgrundsätzen nur dann, wenn zum Zeitpunkt des Unfalls keine Streupflicht bestand oder die Beklagte ihrer Streupflicht im zeitlichen Zusammenhang zu dem Unfall nachgekommen wäre. Das ist indessen nicht der Fall.

aa) Die Beweiserleichterung nach den Regeln des Anscheinsbeweises kann nur dann Platz greifen, wenn zuvor festgestellt ist, dass das Unfallereignis in einem Zeitraum stattgefunden hat, währenddessen die Unfallstelle gestreut gewesen sein musste. Für die Bestimmung dieses Rahmens ist der Anspruchsteller beweispflichtig. Insoweit gilt der allgemeine Grundsatz, dass er die Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen trägt, aus denen nach den Grundsätzen über die Verkehrssicherungspflicht eine Streupflicht erwächst Aus dem Umstand allein, dass die Unfallstelle nicht abgestreut war, lässt sich demnach allein noch kein Rückschluss auf eine Pflichtwidrigkeit der Beklagten ziehen (BGH, Beschluss vom 19.12.1991 – II ZR 2/91). Hier bestand die Streupflicht, weil die Beklagte auch mit der Berufungsbegründung keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorgetragen hat, dass sie wegen Niederschlags nicht verpflichtet gewesen wäre, den Gehweg vor dem Unfall von Schnee und Eis zu befreien. Vielmehr ergibt sich aus dem vom Landgericht zutreffend gewürdigten Gutachten des Deutschen Wetterdienstes (Anl. K 4), dass seit dem 2.12.2010 in Berlin eine geschlossene Schneedecke lag, der 5.1.2011 niederschlagsfrei blieb und erst in den Morgenstunden des 6.1.2011 zwischen 7:00 Uhr und 8:00 Uhr Regen/Sprühregen einsetzte, der auf dem gefrorenen Boden teilweise zu Glatteisbildung führte. Da sich der Unfall nach der Bekundung des Zeugen … vor dieser Zeit (um 6:50 Uhr) ereignet hat und nach seiner Aussage zu diesem Zeitpunkt kein Niederschlag eingesetzt hatte, bestehen an der Räumpflicht der Beklagten, die spätestens nach den Schneefällen am 4.1.2011 begann und über den gesamten 5.1.2011 andauerte, keine Zweifel.

bb) Es liegen auch keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beklagte vor dem Unfall ihrer Räum- und Streupflicht nachgekommen ist. Das Landgericht hat die Aussage des Zeugen … zutreffend gewürdigt. An die hier allein entscheidende Frage, ob der Gehweg am Unfalltag von Schnee und Eis geräumt war, konnte sich der Zeuge nicht erinnern. Die Aussage des Zeugen … ist daher nicht geeignet, die Bekundungen des Zeugen … zu widerlegen, der von einer geschlossenen Schneedecke zum Unfallzeitpunkt auf dem Gehweg berichtet hat. Dem steht auch nicht die “Streuliste” (Anl. PPP 2) entgegen, die über den Reinigungszustand des Gehwegs nichts besagt. Auch diese Beweiswürdigung durch das Landgericht ist daher im Rahmen der beschränkten Prüfungspflicht durch das Berufungsgericht nicht zu beanstanden.”