Aus der Rubrik “Wissenswertes”:

Ist das Jobcenter verpflichtet, die volle Miete für eine Wohnung zu übernehmen, die von einer streng religiösen Familie in Kenntnis der unangemessen hohen Kosten bezogen wurde, um in der Nähe des von ihnen besuchten Gotteshauses wohnen zu können?

Die Antwort des Sozialgerichts Berlin (SG Berlin – S 162 AS 14273/17 ER, Beschluss vom 14.11.2017) lautet: Nein!

Zur Begründung führt das Sozialgericht Berlin in seiner vorgenannten Entscheidung wie folgt aus: “Der bei Gericht am 09.11.2017 eingegangene Antrag, den Antragsgegner zu verpflichten, den Antragstellern die tatsächlichen KdUH ab Antragseingang bei Gericht zu bewilligen, ist unbegründet.

Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht, vgl. § 86b Abs. 2 S. 2 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung.

Eine Anerkennung der Bedarfe der Antragsteller für Unterkunft und Heizung in Höhe der von ihnen angegebenen tatsächlichen Aufwendungen von monatlich insg. 2.200 EUR (= 1.900 EUR Grundmiete + 300 EUR Betriebskostenvorschuss) scheidet aus, da Aufwendungen für die Bruttokaltmiete in dieser Höhe abstrakt und konkret unangemessen iSv § 22 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) iVm den Ausführungsvorschriften zur Gewährung von Leistungen gemäß § 22 SGB II und §§ 35 und 36 SGB XII vom 24.11.2015 idF vom 06.12.2016 (AV-Wohnen) sind.

Dass die monatlichen Aufwendungen der Antragsteller für die Bruttokaltmiete abstrakt unangemessen sind, bedarf wegen Offensichtlichkeit keiner weiteren Begründung. Dies gilt auch bei Berücksichtigung der Werte nach dem Berliner Mietspiegel 2017 und selbst unter Einbezug von mittleren Wohnlagen (vgl. geplante Erhöhung des Richtwertes für die abstrakt angemessene Bruttokaltmiete auf monatlich max. 795,60 EUR bei abstrakt angemessener Wohnungsgröße von 102 qm für fünf Personen) – wobei das Bundessozialgericht (BSG) entschieden hat, dass die für Hilfebedürftige infrage kommende Wohnung nach Ausstattung, Lage und Bausubstanz nur einfachen und grundlegenden Bedürfnissen entsprechen muss, ohne einen gehobenen Wohnstandard aufzuweisen (Urteil vom 10.09.2013, B 4 AS 77/12 R). Nichts anderes ergibt sich, wenn bei erforderlicher Neuanmietung von Wohnraum eine Überschreitung des Richtwertes für die Bruttokaltmiete von bis zu 10% anerkannt wird (vgl. Pkt. 3.4 AV-Wohnen) – wobei der Antragsgegner einen Zuschlag von 20% “wegen Wohnungslosigkeit” berücksichtigte (Leistungsbescheid vom 30.08.2017). Damit liegen die vom Antragsgegner bereits anerkannten Aufwendungen der Antragsteller für das Wohnen deutlich über dem vom Sozialgericht Berlin vorliegend als abstrakt angemessen angesehenen Wert (als Ausdruck eines “schlüssigen Konzepts” iSd Rechtsprechung des BSG).

§ 22 Abs. 1 S. 3 SGB II (“Kostensenkungsverfahren” mit Absenkung der vom Antragsgegner anzuerkennenden Bedarfe der Antragsteller für Unterkunft und Heizung auf das angemessene Maß allenfalls nach einer “Schonfrist” von längstens sechs Monaten) findet zu Gunsten der Antragsteller keine Anwendung. Das BSG, dem die Kammer insoweit folgt, hat zu der genannten Regelung ausgeführt (Urteil vom 07.11.2006, B 7b AS 10/06 R, mwN; ständige Rechtsprechung, vgl. nur bezugnehmendes Urteil vom 15.06.2016, B 4 AS 36/15 R).

Eine Kostensenkungsaufforderung bzw. eine Information ist weder in § 22 SGB II normiert noch sonst formelle Voraussetzung für die Weigerung, mehr als die angemessenen Kosten zu übernehmen. Der Hinweis hat vielmehr alleine Aufklärungs- und Warnfunktion, damit der Hilfebedürftige Klarheit über die aus Sicht des Leistungsträgers angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft und ggf. die Heizung und einen Hinweis auf die Rechtslage erhält (…). Sind dem Leistungsempfänger die maßgeblichen Gesichtspunkte bekannt, bedarf es nicht einmal der Aufklärung (…).

So liegt der Fall hier. Die Antragsteller haben “sehenden Auges” vom Ausland aus eine Wohnung in Berlin angemietet, die angesichts erkennbarer, mietpreisbildender Merkmale (Lage, Größe, Wohnstandard, Ausstattungsgrad) als Unterkunft im Luxussegment zu bezeichnen sein dürfte, ohne über nach ihren Angaben korrespondierende Vermögens- bzw. Einkommensverhältnisse zu verfügen. Es dürfte allgemeiner Lebenserfahrung entsprechen, dass bei geltend gemachter Hilfebedürftigkeit vom ersten Tag des gewöhnlichen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland an (vorliegend ab 02.07.2017) die Übernahme auch von Unterkunftskosten im Luxussegment durch einen öffentlichen Leistungsträger – neben der Übernahme der “allgemeinen” Lebenshaltungskosten für eine fünfköpfige Familie und ggf. weiterer Leistungen – nicht ohne Weiteres angenommen werden kann. Für den Fall, dass sich die Antragsteller diesen ganz naheliegenden Überlegungen – trotz Unterstützung bei der offenbar monatelang im Voraus geplanten Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland durch das Jüdische Bildungszentrum Chabad Lubawitsch (Berlin) – verschlossen haben, dürfte zumindest grobe Fahrlässigkeit gegeben sein. § 34 Abs. 1 SGB II stuft aber ein Verhalten als “sozialwidrig” ein, durch das der Hilfebedürftige vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat – wobei gemäß § 34 Abs. 1 S. 2 SGB II als Herbeiführung iSv S. 1 der Norm auch gilt, wenn die Hilfebedürftigkeit erhöht wird.

Deshalb soll der Hilfebedürftige nach § 22 Abs. 4 S. 1 SGB II vor Abschluss eines Vertrages über eine neue Unterkunft die Zusicherung des für die neue Unterkunft örtlich zuständigen Trägers zur Berücksichtigung der (angemessenen) Aufwendungen für die neue Unterkunft einholen. Dies dürfte den Antragstellern angesichts des Schreibens des Jüdischen Bildungszentrums Chabad Lubawitsch (Berlin) an den Antragsgegner vom 02.01.2017 zumindest dem Grunde nach nicht unbekannt gewesen ein; zumindest hatte entsprechendes Problembewusstsein im vorgenannten Sinn durchaus bestanden. Denn es war von dort aus im Auftrag der Antragsteller eine Anfrage an den Antragsgegner veranlasst worden, wobei insbesondere aus angeführten Gründen der täglichen Religionsausübung der Antragsteller darum gebeten worden war, “es der Familie G. zu ermöglichen, eine Wohnung in der Nähe unserer Synagoge zu mieten”, obwohl die Mieten in dem dafür in Betracht kommenden Wohnviertel “leider über dem normalerweise vom Job-Center genehmigten Betrag für die Monatsmiete (liegen)”. Anders ist das genannte Schreiben mit dem hier nur auszugsweise wiedergegebenen Inhalt nicht zu erklären, und nach dem Vortrag der Antragsteller im vorliegenden Verfahren hätte zu dem Schreiben ansonsten kein Anlass bestanden.

Die Begrenzung auf angemessene Kosten in § 22 Abs. 1 S. 3 SGB II ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden; eine Verpflichtung, jedwede Unterkunft im Falle einer Bedürftigkeit staatlich zu finanzieren und insoweit Mietkosten unbegrenzt zu erstatten, existiert nicht (so jüngst Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10.10.2017, 1 BvR 617/14). Die von den Antragstellern angeführte Glaubensfreiheit (Art. 4 Grundgesetz) zwingt zu keiner anderen Betrachtung; der Schutz der Verwirklichung und Betätigung ihrer Überzeugung ist durch staatliches Handeln berlinweit nicht tangiert. Ein Verweis der Antragsteller bei der Wohnungssuche auf das gesamte Berliner Stadtgebiet ist zulässig (vgl. entspr. BSG-Rechtsprechung). Schon deshalb erscheint es fernliegend, vorliegend mit Erfolg zu vertreten, dass “einige Berliner Stadtteile” – wenngleich auch aus vorgetragenen Gründen von “Alltagsrassismus” – als Wohnquartiere für sie nicht in Betracht kämen.

Schließlich dürfte der zwischen den Antragstellern und ihren Vermietern geschlossene Mietvertrag vom 06.05.2017 auf Grund der besonderen Umstände, wie sie sich aus den Akten bzw. dem Vortrag der Beteiligten ergeben, als Vertrag zu Lasten Dritter – die von den Antragstellern seinerzeit eingegangene zivilrechtliche Verpflichtung u.a. zur pünktlichen Zahlung von Miete und Nebenkosten sollte von Beginn ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland an durch ihnen entsprechend zu gewährende, aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanzierte staatliche Leistungen erfüllt werden – zu bezeichnen sein. Ein solcher Vertrag stellt grundsätzlich einen Verstoß gegen tragende Grundsätze des bürgerlichen Rechts dar. Der bei mangelnder Mitwirkung des “Dritten” untersagten vertraglichen Drittbelastung dürfte hier durch das “Korrektiv” der Anerkennung der Unterkunftskosten der Antragsteller in der durch die AV-Wohnen festgelegten Höhe zu begegnen sein.

Vorliegend spricht nichts dafür, dass die nach allem abstrakt angemessenen Unterkunftskosten nebst vom Antragsgegner gewährtem Zuschlag von 20% nicht auch im konkreten Fall (individuelle Angemessenheitsprüfung) als maximal anzuerkennende Aufwendungen anzusehen sind. Insbesondere ist es nach Aktenlage bzw. dem Vortrag der Beteiligten nicht wahrscheinlich, dass die nach ihren Angaben vermögenslosen Antragsteller in absehbarer Zeit kostendeckende Einkünfte erzielen und ihre Hilfebedürftigkeit beenden werden, was u.U. eine zeitlich begrenzte Unterstützung im beantragten Sinn rechtfertigen könnte (vgl. Pkt. 3.5.1 Buchst. f) AV-Wohnen). Unter den gegebenen Umständen dürfte die Wohnung für die Antragsteller jedoch ohnehin nicht erhaltenswert sein, was sie mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 13.11.2017 auch selbst eingestehen.”